Priester, Seher und Orakel im antiken Griechenland

Priester, Seher und Orakel im antiken Griechenland
Priester, Seher und Orakel im antiken Griechenland
 
Im antiken Griechenland gab es keine organisierte Berufsgruppe von Priestern wie etwa im modernen. Christentum, Rabbis im Judentum und Mullahs im Islam. Priester oder Priesterin zu sein hieß im Allgemeinen auch nicht, einer besonderen Berufung mit Leib und Seele zu folgen, sondern einer Art Nebenbeschäftigung nachzugehen. Der einflussreichste Politiker im Athen der 330er-Jahre, Lykurg, war auch Priester. Weil es eine fest organisierte Berufsgruppe von Priestern nicht gab, war die griechische Religion, zumindest auf der Ebene der Rituale, ziemlich konservativ. Diese Folgerung mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, doch existierte eben keine Körperschaft, kein Rat und keine Synode, die über genügend Autorität verfügte, um selbst allgemein akzeptierte Veränderungen durchzusetzen. Der griechische Ausdruck für Priester »hiereús« bezeichnet jemanden, der für die heiligen Gegenstände und Riten, »hierá«, verantwortlich ist. Wir können mit Sicherheit annehmen, dass Priesterämter überall in Griechenland und in jeder Zeitepoche von Angehörigen der wohlhabenden Schicht verwaltet wurden. Eine Frau hat aus einem Priesteramt vielleicht mehr Prestige beziehen können als ein Mann, dem auch andere öffentliche Ämter offenstanden. Auf Vasenbildern findet man daher oft Priesterinnen mit Schlüsseln aus Metall dargestellt; und solche Schlüssel hat man auch bei Ausgrabungen gefunden. Tempel waren normalerweise verschlossen und wurden nur an den Festtagen geöffnet.
 
Die Aufgaben von Priester oder Priesterin bestanden im Wesentlichen in der Finanzierung und Verwaltung des Kultes. Sie waren für die Aufrechterhaltung des Heiligtumsbetriebes verantwortlich, z. B. dafür, dass die Riten in angemessener Weise abgehalten wurden, und dass die Wertgegenstände in ihrem Einflussbereich zuverlässig bewacht wurden. Oftmals dienten männliche Priester einem Gott und weibliche einer Göttin, doch eine feste Regel gab es dazu nicht: Athene besaß normalerweise einen Priester. Seelsorge gab es im antiken Griechenland nicht, doch konnte man bei unerklärlichen Vorfällen einen Seher um Hilfe bitten. Ein Seher ist der ältesten Überlieferung nach männlich, ein hochgeachteter Krieger, ein geübter Spezialist im Interpretieren der Eingeweide von Opfertieren und im Besonderen des Vogelfluges. Die Verbindung mit dem militärischen Bereich blieb lange selbstverständlich: Noch Alexander der Große konsultierte oft den Aristandros, einen Seher, der aus dem fernen Telmessos in Lykien nach Makedonien gekommen war. Eine wichtige Funktion dieser Seher bestand darin, »Problemlöser« zu sein. Sie halfen ihren Mitmenschen, in schwierigen Situationen eine Entscheidung zu finden - wie dies heute noch in vielen afrikanischen Gesellschaften geschieht. Um ihre Position und ihre Aufgabe zu legitimieren, verwiesen die Seher häufig auf ihren Kontakt zu den Göttern als der Quelle ihres Ratschlags. Die Kunstfertigkeit eines Sehers stand immer auf dem Prüfstand, nicht bei jedem ging die Prüfung positiv aus, und wenige nur erreichten wirkliche und dauernde Prominenz. Während männliche Seher oftmals reisten und nach feststehenden Methoden arbeiteten, blieben weibliche unverändert an einem Ort und weissagten öfter in ekstatischem Zustand. In der Dritten Welt entstammen ekstatische Media heute meist den Randgruppen der Gesellschaft, griechische Seher dagegen gehörten herausragenden Heiligtümern an: so etwa die Pythia, die Seherin von Delphi, die Sibylle und die weissagenden Priesterinnen von Dodona.
 
Um ihre Probleme zu lösen, konsultierten die antiken Griechen nicht nur Seher, sondern auch Orakel, denen sie wahrscheinlich auf Reisen in den Alten Orient und Ägypten erstmals begegnet sind. Schon Homer erwähnt den Reichtum von Delphi und die merkwürdigen Priester von Dodona: »Deuter mit ungewaschenen Füßen, die auf dem Boden schlafen!« Bevor Olympia zum Geburtsort der modernen Olympischen Spiele wurde, diente auch dieses Heiligtum für eine Weile als Orakelstätte. In späterer Zeit kannte man sogar Totenorakel; das bekannteste lag in Nordgriechenland, in Thesprotia. Dort rief der korinthische Tyrann Periander die Seele seiner ermordeten Frau Melissa aus dem Totenreich herauf.
 
Die geographische Lage vieler Orakelstätten - von den wichtigsten Machtzentren weit entfernt - zielte wohl nicht nur darauf, den Griechen die Gunst der Götter als nicht allzu leicht erreichbar scheinen zu lassen, sondern muss auch die Unparteilichkeit der Orakel garantiert haben. Hilfesuchende Parteien konnten so darauf vertrauen, dass im Konfliktfall das Orakel nicht auf der Seite eines mächtigen Nachbarn stehen würde. Andere Orakel, die nicht so weit entfernt lagen, konsultierte man eher bei Bürgerzwisten. Doch verhält es sich hier wie bei den Sehern: Auch die Orakel halfen eher bei der Entscheidungsfindung, als dass sie tatsächlich die Zukunft vorhersagten.
 
Prof. Dr. Jan N. Bremmer
 
 
Bremmer, Jan: Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland. Autorisierte Übersetzung von Kai Brodersen. Darmstadt 1996.
 Maass, Michael: Das antike Delphi. Orakel, Schätze und Monumente. Darmstadt 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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